Auf der Suche nach wissenschaftlichen Fake-News
Von: Thorsten Mohr
Anfang 2020 startete das Projekt „Summa cum fraude (mit höchstem Betrug) - Wissenschaftliches Fehlverhalten und der Versuch einer Gegenoffensive. Inzwischen haben die vier Wissenschaftler*innen einiges an Material zusammengetragen. Sie finden klare Hinweise darauf, dass das Fälschen wissenschaftlicher Daten vor allem in Indien und China gehäuft vorkommt. Nach einem Jahr ziehen sie nun eine Zwischenbilanz.
Auf der Suche nach wissenschaftlichen Fake-News
Frank Müllers Mission erinnert an die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. „Aber in diesem Heuhaufen liegen Tausende von Nadeln“, sagt der habilitierte Experimentalphysiker, der am Lehrstuhl von Professorin Karin Jacobs lehrt und forscht. Müller, Jacobs, ihre Mitarbeiterin Dr. Anne Holtsch sowie Dr. Ulrich Herb von der Universitäts- und Landesbibliothek gehen gemeinsam Wissenschaftliches Fehlverhalten und der Versuch einer Gegenoffensive“ auf die Jagd nach Fälschungen in wissenschaftlichen Publikationen mit dem Ziel, wirksame Massnahmen zu entwickeln, die dem entgegenwirken.
Das Fazit nach einem knappen Jahr ist ernüchternd. „Wenn ich stichprobenartig Publikationen aus wissenschaftlichen Datenbanken nach bestimmten Auswahlkriterien, zum Beispiel regionale Herkunft, heraussuche, komme ich auf einen Anteil von 33 bis 40 Prozent von Artikeln, die mit gefälschten Daten arbeiten“, sagt der Experimentalphysiker Frank Müller, der für seine Stichproben meist ebenfalls Publikationen aus der Experimentalphysik herausgesucht hat, die er als Fachmann beurteilen kann. Insbesondere Publikationen aus Indien und China stechen hier hervor.
Besonders eine Art der Fälschung fällt ihm nach mehreren Hundert untersuchter Fälle auf: „In den beanstandeten Publikationen tauchen immer wieder exakt dieselben Messdaten auf, was am immer identischen Untergrundrauschen erkennbar war.“ Dabei ist es eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, dass eine Messung zu hundert Prozent exakt dieselben Messwerte wiedergibt, auch wenn die Bedingungen identisch sind.
Vergleichbar ist das mit einer Tonaufnahme eines Interviews, das zweimal geführt wird: Selbst wenn derselbe Interviewer exakt dieselben Fragen an dieselbe Person richtet und diese bis auf die letzte Silbe exakt dieselben Antworten gibt, werden sich die Aufnahmen voneinander unterscheiden.
Die Hintergrund- und Begleitgeräusche werden andere sein. Mal rauscht vielleicht die Klimaanlage, mal sind vielleicht die Blätter eines Baumes zu hören, die im Wind rascheln, mal wird sich ein Gesprächspartner kurz räuspern. An den Messdaten selbst – also dem Gespräch – wird sich nichts ändern.
Aber wenn man das Gespräch visualisiert, also etwa als Diagramm mit X- und Y-Achse wiedergibt, wird die Kurve dank der andersartigen Hintergrundgeräusche anders aussehen. Genauso verhält es sich auch mit den Messdaten in naturwissenschaftlichen Publikationen.
In vielen untersuchten Veröffentlichungen sind die Messdaten im Untergrund bis auf den kleinsten Zacken deckungsgleich, die Messsignale jedoch unterschiedlich, was ein klares Indiz für einen gefälschten Datensatz ist. Die Glaubwürdigkeit auch der validen Messdaten ist damit zunichte gemacht.
Manche Fälschungen sind auch so verrückt, dass man es erst gar nicht glauben mag: „Einmal hatte ich einen Autor gefunden, dessen Kurven rückwärts verlaufen sind“, erklärt Frank Müller. Anders gesagt: Die angebliche Messung, die damit grafisch dargestellt wurde, hat zur selben Zeit, die auf der einen Achse angegeben wurde, zwei unterschiedliche Messwerte ergeben.
Frank Müller macht die Herausgeber der Fachmagazine auf solche krassen Fälle aufmerksam. Die Reaktionen darauf sind vielfältig. Sie reichten vom Zurückziehen des Artikels bis hin zum „Schulterzucken“ der Verlagsverantwortlichen, berichtet Frank Müller.
Schuld daran seien insbesondere zwei Umstände, sagen die Projektleitenden. Zum einen der Druck, dessen Ursprung im so genannten „Publish or Persish“ -Phänomen liegt, also „veröffentliche oder gehe unter“: Einige Wissenschaftler*innen, insbesondere in Indien oder China, haben strikte Vorgaben ihrer Universitäten umzusetzen. Schaffen sie es nicht, eine festgelegte Anzahl von Artikeln in Fachmagazinen mit einem ebenfalls festgelegten Impact Factor einer gewissen Höhe zu veröffentlichen, stockt ihre wissenschaftliche Karriere oder ist gar komplett bedroht.
Der zweite Grund ist Geld: In China beispielsweise werden wissenschaftliche Publikationen mit Prämien belohnt. Je höher der Impact Factor, der Wert, der das Renommée einer Zeitschrift wiedergibt, desto mehr Prämie fliesst an den Erstautor. Bei den Top-Zeitschriften wie „Science“ oder „Nature“ kann eine Publikation dann auch einmal 150‘000 Dollar Prämie bedeuten.
Solche Belohnungssysteme sind der ideale Nährboden für das Fehlverhalten, das Frank Müller und seine Kolleginnen und Kollegen beobachten. Das eine zwingt die Wissenschaftler*innen aus purer Existenznot heraus, viel zu publizieren. Das andere ist die Gier nach Geld.
„Beide Belohnungssysteme sind keine Motivation für eine gute Wissenschaft“, sagt Karin Jacobs. Zwar gebe es auch in westlichen Ländern den Druck zu publizieren und auch monetäre Anreize. Aber die sind längst nicht so ausgeprägt wie in den beiden Hotspots wissenschaftlicher Fälschungen, China und Indien.
„Die DFG beispielsweise hat auf ‚Publish or Perish‘ reagiert, indem man bei Anträgen nur noch maximal zehn Publikationen angeben darf“, sagt Karin Jacobs. Damit möchte die grösste deutsche Forschungsförderungsgesellschaft dem Publizieren des Publizierens willen entgegenwirken.
Publikationsdruck und Geldprämien müssten drastisch sinken. Und: „Es müssten grundsätzlich mit jeder Veröffentlichung auch immer gleich die Rohdaten mitgeliefert werden. Und wenn ein Artikel zurückgezogen wird, müssten Artikel, die diesen anschliessend zitiert haben, automatisch mit einem Hinweis versehen werden. Hier gibt es aber bisher keine einheitliche Lösung“, sagt Physikprofessorin Karin Jacobs.
Ausserdem müsse sich die Denkweise der Journale ändern. „Bisher haben die Verlage eher Angst vor einer hohen Retraction Rate“, also der Zahl der zurückgezogenen Artikel. „Dabei müsste sich eigentlich der Gedanke durchsetzen, dass eine hohe Retraction Rate nicht gegen, sondern viel mehr für die Qualität eines Journals spricht“, so die Experimentalphysikerin. Denn schliesslich würde es irgendwann auch dem letzten einleuchten: Was in diesem Journal steht, wird genau durchleuchtet und hat somit wirklich Hand und Fuss.
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