Unter Bäumen bist du nie allein
Von: Elisha
Unscheinbar lag die kleine Karte neben dem durchsichtigen Beutel mit Süssigkeiten. Will nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete sie genau. Er wusste, dass seine Schwester sie selbst erstellt hatte. Erst vor zwei Wochen hatte sie mit ihrem neuen Hobby begonnen, was sie „Hand-Lettering“ nannte. Sie experimentierte mit verschiedenen Schriftarten und Schreibstilen, um ein ganz besonderes Design zu erstellen. Wenn er genau schaute, erkannte er noch Radiergummi-Krümel von den Hilfslinien. Er lächelte bewundernd.
„Das ist ja ein richtiges Kunstwerk, Marie!“, sagte er anerkennend und küsste sie auf die Wange.
„Und ich dachte, der Spruch ist was für dich!“
Erst jetzt entzifferte er die Karte: „Unter Bäumen bist du nie allein.“
„Ja, danke. Du kennst mich eben.“ Er fühlte sich auf angenehme Weise gesehen.
Dabei hatte er die Liebe zu Bäumen erst von Nanni lernen müssen. Seine erste Freundin hatte sich mit den Pflanzen umgeben, in Skizzen und Fotos und kleinen Skulpturen. Besonders liebte sie den Lebensbaum, und auf schmerzliche Art musste er erst dessen Aussehen lernen. Er hatte ihr nämlich einen Baum- Anhänger an einem Lederband gekauft, doch statt Entzücken hatte sie peinlich berührt zur Seite gesehen.
„Was ist nicht in Ordnung?“, hatte er gefragt und schon gedacht, dass sie sich lieber eine wertvolle Kette aus Edelmetall gewünscht hätte. Stattdessen sagte sie schlicht: „Der Baum hat keine Wurzeln“, und Tränen waren ihr über die Wangen geströmt. Das war der Anfang seiner eigenen Liebe zu Bäumen geworden.
Er hatte selbst nachgelesen, und immer mehr hatte es ihn fasziniert. In so vielen Kulturen und Religionen gab es einen Baum des Lebens oder einen gesegneten Baum. Das keltische Abbild wurde mit einem Labyrinth an Wurzeln als ein Spiegelbild zu seinem verschlungenen Geäst dargestellt. Soviel zur Kette! Er liebte die Sagen und alten Geschichten über Bäume, und als er in seine erste Wohnung zog, spannte sich im Flur ein lebensgrosses Foto eines Baumstammes mit armdicken Wurzeln.
Mona, seine damalige Freundin, hatte davor gestanden und vor Lachen gegluckst. Ihr Ansatz war nicht der mythische, sondern psychologisch.
„Wurzeln stehen für Ressourcen. Entweder verfügst du über eine gute Widerstandsfähigkeit, oder das ist etwas, an dem du noch zu arbeiten hast“, hatte sie in leicht spöttischem Ton doziert. Die Beziehung mit Mona zeigte, dass er auf keinen Fall mit dem Thema abgeschlossen hatte.
Will las noch einmal laut den Satz: „Unter Bäumen bist du nie allein.“ Er lächelte wehmütig.
„Das ist wirklich tröstlich.“
Wie immer, wenn er Besuch hatte, konnte er es kaum erwarten, den letzten Gast zu verabschieden und hinaus zu stürmen, den Weg entlang in das kleine Wäldchen. Hier, umgeben von Bäumen und Sträuchern, fühlte er sich wohl und geborgen. Da machte es auch nichts, dass sie blattlos und kahl da standen und in einer Art Winterschlaf die Zeit bis zu ersten Knospen und Trieben verbrachten.
Wie sonst auch, berührte er mit den Fingerspitzen die knorrige Rinde einer alten Eiche, umarmte den Stamm einer Rotbuche. Nein, er fühlte sich wirklich nicht allein, genoss die Nähe und die Energie. Dann ging er weiter den Waldweg entlang, bis zu dem Felsstück oberhalb des Abhanges. Gerade im Winter war dies der Platz mit der besten Aussicht, und ohne verdeckende Zweige konnte man das ganze Tal unter ihm überblicken. Gern setzte er sich dort auf den Stein und schaute und liess seine Gedanken treiben.
Nur heute war es anders. Die innere Ruhe wollte sich nicht einstellen. Ihm war, als wären ständig Augen auf ihn gerichtet, folgten ihm Blicke bei jedem seiner Schritte, allen seinen Berührungen. Er versuchte, solche Gedanken abzuschütteln, aber ein dumpfes Gefühl der Bedrohung blieb. Unruhig rutschte er auf dem Felsstück hin und zurück, und dann meldete sich auch noch seine Blase.
Es war nicht das erste Mal, dass der Druck so störend wurde, dass er sich im Wald erleichtern musste.
„Natur zu Natur“, hatte er sich ohne Scham gesagt in dem Bewusstsein, dass in diesem Gebiet selten ein Wanderer zur gleichen Zeit seine Strecke ging. Einmal hatte er sich wie ein Jagdhund gefühlt, der stolz die Gegend mit seiner Duftmarke versah und hatte leise zu sich selbst gesagt: „Das alles ist jetzt mein Reich!“
Zu solchen Spässen war er nun nicht aufgelegt. Eine seltsame Spannung lag in der Luft, während er zitternd den Reissverschluss seiner Hose öffnete. Die kleinen Windstösse, die die Zweige leise bewegten, klangen wie Gewisper, und sie wirkten wie leichte Berührungen auf der Haut.
Er zuckte, versuchte zügig, seine Handlung umzusetzen. Aber die geflüsterten Stimmen wurden lauter, und ein hämischer Unterton machte sich breit. Er wollte es schleunigst hinter sich bringen und dann losstürmen, zurück nach Hause, in seine Stube. Aber während er dastand und sein Strahl sich über den Abgrund ergoss, konnte er Worte aus dem Gerede um ihn herum verstehen, und ganz verdutzt vernahm er den gekicherten Satz: „Habt ihr schon mal so einen kleinen Zapfen gesehen?“
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